Vom Flüchten und Stehenbleiben


Ich möchte jetzt eine Geschichte aus der Vergangenheit erzählen. Damals beschäftigte ich mich schon über zwei Jahre mit dem Weg aus der Esssucht, kam an viele Themen heran, hatte schon weniger Essdruck, brauchte schon weniger Essen.

Es ist mir von Anfang an recht leicht gefallen auf den Hunger zu warten, das war mir aus meinen vielen Hungerphasen vertraut, was ich nicht konnte, war aufzuhören wenn ich satt war. Sobald ich das Essen anfing musste ich mehr als satt sein um aufhören zu können. Die Verbesserung war, dass ich am Anfang des Weges nur zwei Extreme kannte, hungern oder essen bis ich buchstäblich platze. Nur wenn nichts, aber auch nicht das kleinste Fitzelchen mehr reinging, konnte ich aufhören. Und wenn es ein schlechter Tag war auch nur für kurze Zeit. Wenn der Druck im Magen auch nur ein wenig nachgelassen hatte, konnte es weitergehen.

Nun war in an einen Punkt angelangt, wo ich ’nur‘ ordentlich voll sein musste um aufhören zu können, nicht mehr kotzübelsatt, aber wenn der Magen nicht spannte, konnte ich nicht aufhören.

Als es passierte war ich war auf einem therapeutischen Seminar, mitten in einer Essensübung beim Abendessen.

Gefrühstückt hatte ich nicht, weil ich keinen Hunger hatte, zu Mittag gab es drei Kartoffelspalten, mehr Hunger hatte ich nicht. Das ging alles schon. Aber das Abendessen, die letzte Mahlzeit des Tages, meine letzte Möglichkeit zum Essen zu kommen, war etwas ganz anderes.

Die Therapeutin kam in regelmäßigen Abständen herein und schlug einen Gong, wir sollten dann fühlen wo wir uns auf der Hungerskala befinden. Zu einigen ging sie direkt hin und fragte nach.

Ich hatte schon die Hauptmahlzeit gegessen und war gerade auf dem Weg zum Buffet um mir Nachtisch zu holen. Die Hungerskala bei mir habe ich nicht wirklich gefühlt, ich habe die Übung boykottiert. Ich war absolut entschlossen Nachtisch zu essen, auf jeden Fall, und niemand würde mir das verbieten!

Zu meiner Überraschung und zu meinem Entsetzen kam sie direkt auf mich zu und fragte mich wo ich auf der Hungerskala sei. Blitzschnell überlegte ich. Ich wusste plötzlich genau ich war auf der 7 (7 bedeutet gut satt, höchste Zeit aufzuhören), aber wenn ich sage ich bin auf der 6 (angenehm satt, aber a bisserl geht schon noch) dann kann ich noch einen Bissen vom Dessert essen. Wenn ich zugebe, dass ich auf 7 bin und trotzdem essen will, bin ich ein Versager, oder noch schlimmer, vielleicht darf ich dann nicht weiter essen, vielleicht verbietet sie es mir und dann, was dann, das halte ich nicht aus, dann sterbe ich. Ich sagte 6, ging zum Buffet, holte mir das Dessert und setzte mich wieder hin.

Aber es half nichts. Ich war damit konfrontiert worden, dass ich mir selbst was vormache, ich hatte es vor allen anderen versteckt aber vor mir selbst konnte ich es nicht verstecken. Dann esse ich das eben nicht, dachte ich, und da passierte es, allein die Vorstellung, jetzt nicht mehr weiter zu essen versetzte mich in Panik, das überlebe ich nicht, ich bekam Schweißausbrüche, Herzrasen, Schwindel, bis ich schließlich in Tränen ausbrach. Was für ein Dilemma, ich war hier um zu lernen nicht mehr zu überessen und merkte, dass es auf der anderen Seite nicht ging, ich wollte weiteressen.

Die Therapeutin kam zu mir an den Tisch und ich erzählte ihr alles, dass ich sie angelogen habe, dass ich weiteressen will, dass ich aber nun, da ich gemerkt habe, dass ich mich selbst belüge Panik bekomme, man könnte mir das Essen wegnehmen, und ohne Essen überlebe ich nicht.

Sie ging mit mir raus, und fragte mich was passieren würde, wenn ich jetzt nicht weiteresse. ‚Dann kann ich nicht weiterleben, dann habe ich nichts mehr im Leben, das ist das Einzige, was ich für mich habe, ansonsten muss ich mein Leben nur ertragen, immer nur auf die anderen schauen, für mich gibt es nichts, nichts, ich habe nur das Essen, das Essen lässt mich überleben, ohne Essen sterbe ich‘, sagte ich und weinte dabei bitterlich während sie mich in ihren Armen hielt.

Als das Weinen abgeebbt war, die Welle vorbeigezogen war, sagte sie: ‚Du hast jetzt nicht gegessen, und du bist noch nicht gestorben, siehst du das?‘

Das war ein Schock, ja stimmt, ich lebte noch, ich musste sogar lachen. Und wie ist der Essdruck jetzt? Er war weg. Als wäre er nie dagewesen. Ich wollte nichts essen, wozu auch?

Das, was mit Essen unten gehalten werden musste, war an die Oberfläche gekommen, es durfte sich zeigen, durfte sein und wurde getröstet und angenommen. Für diesen Moment war Essen nicht mehr notwendig.

Seitdem habe ich das noch tausend Mal erlebt, immer und immer wieder. Das was essen will, will nur gesehen werden, liebevoll in die Arme geschlossen werden, geliebt werden. Sonst nichts. Der Essdruck ist nur der Anzeiger, dass etwas nicht stimmt, dass wir uns in irgendeinem Punkt übergehen, etwas wegdrücken, nicht mit uns verbunden sind.

Er ist wie ein Warnlämpchen im Auto. Wenn es leuchtet wissen wir, dass mit dem Auto etwas nicht in Ordnung ist und gehen der Ursache auf den Grund, beheben dann das Problem. Würden wir dem Warnlämpchen mit der Diätmentalität begegnen, dann würden wir es einfach ausstecken, dann stört es uns nicht mehr. Die Ursache bleibt bestehen solange bis das Auto kaputt geht. Wenn wir aber weiter essen, ist es als würden wir das Lämpchen einfach weiter leuchten lassen, die Botschaft nicht wissen wollen und das geht auch so lange gut, bis das Auto kaputt geht. Mit unserem Auto würden wir so höchstwahrscheinlich nicht umgehen. Warum dann mir uns selbst?

Wenn ich das schreibe erscheint es mir umso erstaunlicher, dass ich mich immer wieder scheue hinzuschauen. Es ist das selbe Prinzip wie der immer wiederkehrende Widerstand dagegen laufen zu gehen, obwohl es jedes Mal schön und nährend ist. Irgendetwas will immer nur flüchten. Wie ich irgendwo gelesen habe: unterschätze nie deine Tendenz zu flüchten. Das ist ein urmenschliches Prinzip, weg von dem Unbequemen. Und es braucht Achtsamkeit um es zu bemerken und eine Entscheidung um stehenzubleiben, sich umzudrehen und dem Unbequemen, Unangenehmen und Ungewollten ins Gesicht zu schauen. Und dann braucht es Liebe um es in die Arme zu nehmen und zu trösten, denn eines ist sicher, es leidet. Wenn wir es weder wegdrücken noch ignorieren sondern liebevoll in die Arme schließen und trösten, dann macht dieser Teil in uns eine neue Erfahrung. Und diese Erfahrung ist nicht unbedingt, dass man alles ändern oder richten kann im Leben, denn so ist das Leben nicht, diese Erfahrung ist, dass es niemals alleine ist, niemals wieder alleine, niemals wieder so alleine, wie es früher alleine war. Das ist vorbei, für immer vorbei. Und das heilt.

In diesem Sinne werde ich wieder öfter mal stehenbleiben und mich umdrehen. Das fühlt sich gut an.

2 Gedanken zu „Vom Flüchten und Stehenbleiben

  1. Was für eine tolle Geschichte! Ich bin echt gerührt und finde mich selbst in einigen Punkten wieder…

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