Familientrauer

Diffuses Unwohlsein. Schon damit aufgewacht.

Wie fühle ich das? Spannung im Magen, im Brustbereich, Kiefer und Stirn, nicht sehr stark aber ausreichend um mich zu beunruhigen. Oder auch Ausdruck einer Beunruhigung. Ich weiß es noch nicht.

Ich fühle weiter.

Kann ich denn nicht einfach nur leben? An den meisten Tagen brauche ich erst eine gründliche innere Pflege, bevor ich irgendetwas sinnvolles machen kann.

Die Alternative wäre darüber hinweggehen, aber das führt ins Nirgendwo, ins Essen oder Depression oder sonstwas noch Schlimmeres.

Es ist heute schwer. Außer der Spannung will sich mir nichts zeigen. Es kommt eine Welle spontanen Mitgefühls, ich werde innerlich weicher. Ich bleibe noch etwas dabei, vielleicht zeigt sich noch etwas.

Ich folge dem Körper, lasse den Druck und die Spannung machen was sie wollen, ich tanze innerlich mit und auch ein wenig äußerlich, es kommt Trauer, würgen, dann ein Bild. Ich sehe ein kleines Mädchen, vielleicht drei oder vier oder fünf, die hält krampfhaft fest an einer Liane, über einem Abgrund schwebend, das ist für sie Alltag.

‚Ich habe Angst vor dem Leben, ich habe so Angst vor dem Leben.‘

Ich schaue von Boden zu ihr hoch, sie hängt gar nicht so hoch, ich könnte sie problemlos da runter holen, das scheint sie nicht zu sehen.

Sie sieht den Boden nicht, für sie ist alles neblig, sei denkt sie schwebt irgendwo ganz weit oben.

Ich hingegen bin ganz nah, wenn ich mein Arme ausstrecke, könnte ich sie greifen. Aber das will ich gar nicht, ich traue mich nicht näher, ich habe nichts zu sagen was ihr die Angst vor dem Leben nehmen könnte. Hilfe!

Es kommt mein persönlicher Jesus, jung, schmächtig, in Jeans und einem dunkelblauen T-Shirt, mit halblangen braunen Haaren. Den kenne ich gut, er begleitet mich schon sehr lange, lebt auf einem Hügel in einem fernen Land, inmitten von ein paar Ruinen, umgeben von einer wunderschönen, grün-blau-gold schimmernden Weite. Wenn er kommt, bringt er seine Umgebung immer mit. So auch jetzt.

Links der Dschungel, die Liane, das Mädchen, der Nebel, rechts der Runinenhügel mit Panorama und dem persönlichen Jesus. Und ich mittendrin.

Jesus kommt und nimmt mich in den Arm: ‚Es ist alles in Ordnung‘, sagt er, ‚es ist alles in Ordnung‘. Und das ist ungemein tröstlich, immer wieder. Er sagt das nämlich jedes Mal wenn er kommt. ‚Auch wenn du nicht verstehst welche Ordnung alles hat, ist doch alles in Ordnung. Du kannst der Ordnung vertrauen.‘

Ich setze mich erschöpft auf den Boden. Das kleine Mädchen steigt von der Liane ab und setzt sich auf meinen Schoß.

Der Dschungel verschwindet, der Ruinenhügel samt Jesus auch, es bleibt eine weiße neblige Leere, brr, kalt und leer ist es, wir trösten und wärmen und gegenseitig. Das Mädchen setzt sich in meinen Bauch, da ist es warm und geschützt. Ich kann fühlen, wie sie entspannt.

Ich rutsche durch den weißen kalten Nebel in ein Loch, ich gleite immer tiefer, ich kann mich kaum noch festhalten, ich lasse los, ich falle in eine andere Welt, es ist dunkel, aber da ist auch Licht, Sterne und anderes buntes Licht, ich falle und falle und lande auf einem großen, weichen, weißen Trampolin, ich bleibe einfach auf dem Bauch liegen und schwinge ein wenig nach, irgendetwas warmes weiches deckt mich zu, ich rolle mich ein und schlafe weg, es gibt keine Lösung, ich spüre die Hoffnungslosigkeit und die Überforderung durch das Leben vollkommen, ich bin Hoffnungslosigkeit und Überforderung. Ich löse mich auf, ich werde schleimig, ich Schleim rutsche durch das Trampolinnetz, ich lande auf einem grauen Asphaltboden mitten in einer Stadt, ich wälze mich voller Freude auf diesem harten Boden, so wie meine Hunde sich in Rehkot wälzen. Ah, ah, ich schlängele mich da hinein, der harte Asphaltboden ist so angenehm, und jetzt drehe ich mich auf den Bauch und wälze mich weiter, ah, das ist so schön, ich genieße es richtig, ich gehe mit, innerlich und äußerlich, plötzlich hört es auf, ich sitze wieder an meinem Schreibtisch und fühle eine tiefe wortlose Trauer.

‚Ich will mich nicht so fühlen, diese Traurigkeit ist bedrohlich.‘

Warum eigentlich?

‚Ich weiß nicht.‘

Kannst du nicht in die Traurigkeit hineinschmelzen, wie der Schleim in den Asphalt?

‚Doch, stimmt, ich darf traurig sein, auch wenn ich nicht weiß wieso.‘

Ich tauche ein in das Gefühl, ich werde zur Traurigkeit, der ganze Körper wird schwer und zieht nach unten.

Auf einmal erscheinen meine Großeltern, meine Urgroßeltern und meine Eltern. Sie stehe stumm aufgereiht vor mir.

‚Ist das eure Traurigkeit, die auf mir lastet?‘

Sie nicken stumm im Chor.

‚Dann gebe ich euch hiermit alle Traurigkeit die zu euch gehört zurück.‘

Und dann überreiche ich jedem ein Tuch als Symbol für sein Traurigkeit. Je weiter ich in der Reihe fortschreite, desto mehr muss ich weinen, ich spüre diese unendlich große Familientrauer, die mich auch mit ihnen verbindet. Ja ich spüre sehr viel Mitgefühl für alle, für ihre schweren Schicksale und all ihr Leid. Ich kann den Schmerz eines jeden einzelnen nachfühlen und weine, und weine und weine.

Ich verbeuge mich spontan vor jedem Einzelnen und sage: ‚Es tut mir so leid für dich. Bitte gebe mich frei.‘ Und jeder streift daraufhin seine traurige erdrückende Hülle ab, wird zu der schönsten Ausgabe seiner selbst, Liebe strahlt aus ihren Augen und sie sagen: ‚Ich gebe dich frei.‘

Während all der Zeit weine ich alle Tränen aus mir raus, gleichzeitig bin ich fasziniert, wie schön jeder wird, wenn er seine Hülle abstreift.

In mir ist Frieden eingekehrt, die Trauer ist auch da, aber ich bin damit in Frieden. Und da ist ganz viel Mitgefühl für all die Schicksale und für mich.

Und jetzt merke ich, dass ich total hungrig bin.

Ich bin unschuldig

Die Frau Angst ist wieder sehr mächtig.

Zittern, Magenkrämpfe, weiche Knie, so bin ich aufgewacht. Es ist als ob der Körper erst schlafen muss um die Energie für all die Angstsymptome zu sammeln.

Also, Frau Angst, was soll ich tun?

Kämpfe nicht. Fühle nur. Dann wir dir etwas gezeigt.

Hm. Was?

Das siehst du dann.

Und wie lange?

So lange es dauert.

Ha, ha.

Ok, also ich fühle.Ich tauche ein in den Strudel von Übelkeit und Schwindel und Schwinden. Ich würge und zucke. Zwischendrin merke ich wie der Widerstand automatisch versucht alles wegzudrücken. Es braucht eine bewusste Entscheidung es zuzulassen.

Ich halte das nicht aus, mich ständig so zu fühlen, ich drifte weg, es ist anstrengend. Dabei zu bleiben ist anstrengend. Kann ich nichts von mir wollen?

Wie wäre es wenn ich nichts von mir wollte?

Dann fange ich an mich aufzulösen, werde von Angst und Widerstand in Stücke gerissen. Jeder krallt sich ein Teil. Tränen kommen, sinnlose Situation. Nicht zu ändern.

Ich lege mir eine Hand auf die Brust und schenke mir selbst Mitgefühl, weil es einfach so verdammt Scheiße ist. Ich bin verdammt zu einem Leben in Angst.

Das Mitgefühl ist wie warmes Öl, das ich über meine Haut gieße, es umspült mich, es umschließt mich, es wärmt mich, es tröstet mich. Es gibt keinen Ausweg, aber es gibt Trost.

Und ich merke, Mitgefühl stellt sich erst ein, wenn ich die Hoffnung auf Beeinflussung der Situation völlig aufgegeben habe. Sonst steuert der Antreiber, der will, dass ich mich noch mehr anstrenge um das Problem zu lösen und der mir vorwirft mir nicht genug Mühe zu geben. Der gibt mir die Schuld, ja, der gibt mir die Schuld.

Aber ich habe keine Schuld. Aufgrund unzähliger Umstände, die ich alle nicht beeinflussen konnte geht es mir so, und es wird weiter so sein, dass ich mit unzähligen Umständen konfrontiert werde, die ich nicht beeinflussen kann. Und auch was es in Zukunft mit mir machen wird, ist nicht meine Schuld. Ob ich dann so, oder so oder so reagiere, das weiß ich nicht, und wie auch immer es sein wird, ich habe keinen Einfluss.

Dass ich mich dieser Tatsache nicht vertrauensvoll hingeben kann, das ist das Ergebnis meiner Geschichte auf dieser Welt, und auch das ist ein Umstand, den ich nicht beeinflussen konnte.

Wir Menschen sind dem Leben ausgeliefert, nackt und ungeschützt, egal was wir tun. Und wenn wir dem Leben nicht vertrauen, dann geht es uns eben so. Und dass wir dem Leben nicht vertrauen, das ist auch nicht unsere Schuld.

Aus dieser Perspektive ist es ganz leicht mir mit Mitgefühl zu begegnen, und ich merke, ich brauche dieses ganze Mitgefühl auch dringend, das hat es für mich nie gegeben. Nie.

Auch wenn ich schon hin und wieder auch getröstet worden bin, so doch nie ohne einen Spruch wie: ‚Das hast du jetzt davon.‘, ‚Das habe ich dir gleich gesagt.‘, ‚Warum musstest du auch…‘, ‚Stell dich nicht so an.‘ ‚Selber schuld.‘

Ja, tief eingegraben glaube ich, dass ich an meiner ganzen Misere selbst schuld bin, dass mir das alles wider besseren Wissens selbst eingebrockt habe und dafür sicher kein Mitgefühl verdiene sondern noch einen obendrauf, damit mir das ja nicht nochmal passiert und ich endlich daraus lerne.

Was für eine grausame Welt in mir drin.

Aber jetzt lege ich mir immer wieder die Hand auf die Brust und sage innerlich: ‚Ich bin unschuldig. Dass es mir so geht, geschieht ohne mein Zutun, ich kann es nicht beeinflussen, ich verdiene all mein Mitgefühl für meine schwere Situation.‘

Und, was soll ich sagen, das System beruhigt sich ein wenig. Und das ist viel, wo ich vorher schon kurz vom Brechen war und auf jeden Fall nicht in der Lage war aufrecht zu stehen.

Gibt es den inneren Frieden wirklich?

Ich bin total runtergefahren. War zu erwarten, dass ich irgendwann nicht mehr kann nach dieser dramatischen Woche. Eigentlich könnte ich entspannt rumliegen, es gibt keine besonderen Anforderungen, das mache ich zwar, aber innerlich komme ich nicht zur Ruhe.

Denn nach dem Kurs ist vor dem Kurs. Der nächste Donnerstag schwebt wieder als drohendes Unheil in meinem Inneren. Ich kann es nicht ändern. Ich wollte wenigstens das Wochenende Pause haben, es einfach wegdrücken oder nicht beachten, aber das funktioniert einfach nicht. Es gibt keine Pause.

Ich bin gefangen im Drama-Karusell. Ich will nicht mehr. Wie kann das aufhören? Kann das überhaupt aufhören?

Ich lausche nach innen, vielleicht kann mir meine innere Führung eine Hilfe geben, alles andere erscheint mir sinnlos, erforschen, hinterfragen, ich weiß ja schon die Hintergründe aber es nützt nichts.

‚Wehren nützt nichts, schließe es ein‘, höre ich.

Ich mache es, alles sinkt nach unten, mir wird übel, aber es fühlt sich richtig an, befriedet.

Der innere Frieden kommt durch das Lassen, Annehmen, Einschließen. Ich kann mit ‚lassen‘ und ‚annehmen‘ nicht so viel anfangen, aber mit ‚einschließen‘, das hat eine Wirkung, das versteht mein Körper.

Puh, die Schmerzen sind da, auch einschließen, ja, das beruhigt. Ich werde immer mehr mit mir zusammen gebracht, ich fühle Mitgefühl mit meiner Situation, ich höre auch die üblichen ’so darf es aber nicht sein‘ Stimmen, die sind da, aber sie steuern nicht mehr.

Für diesen Moment bin ich in Frieden. Es gibt ihn, es gibt ihn den inneren Frieden, der von außen unabhängig ist. Denn nichts hat sich im Außen geändert, aber der Kampf hat aufgehört.

Für einen Moment vielleicht nur, aber dieser Moment hat eine Autorität die gilt.