Gesehen werden

Gestern wurden wir spontan zu einem Fest eingeladen, bei Leuten, die wir schon lange nicht gesehen haben und mit praktisch völlig unbekannten anderen Gästen.

Als mein Mann mir das erzählt hat habe ich ihm vorgeschlagen er solle doch alleine hingehen. Das hätte ich einen guten Plan gefunden und ich hätte nicht weiter darüber nachgedacht, aber er reagierte recht genervt und meinte ich wolle nur nicht hingehen weil ich Angst vor den Leuten hätte.

Ja, das stimmte, ich hatte Angst vor den Leuten. Wo das nun mal so offengelegt war, bin ich doch mitgegangen und es war sogar sehr schön.

Dennoch beschäftigt es mich weiter, dieser Punkt ist offensichtlich noch lange nicht ausreichend bearbeitet. Ich kreise herum. Heute morgen, bevor ich das Bett verlassen habe, habe ich noch eine Übung gemacht und bin dem nachgegangen was mich so blockiert. Und es war offensichtlich, ich schäme mich für mein Gewicht, ein alter Hut, aber nach wie vor sehr mächtig. Ich kann immer noch die Stimme hören: ‚Du solltest dünn sein, schäm dich!‘

Dann ist es wohl an der Zeit für die nächste Runde. Ich muss zugeben, dass ich da nicht so gerne hinschaue, weil ich mir keinen Erfolg verspreche. Ich gebe der Stimme absolut recht, was soll denn sonst noch dabei herauskommen?

Und doch gibt es auch einen Anteil, der sich nicht mehr schämen möchte. Und für ihn mache ich das.

Also, warum sollte sie dünn sein?

‚Wie warum? Was ist das für eine Frage? Sie will doch dünn sein!‘

Kleine, stimmt das?

‚Ja, schon, aber im Augenblick weiß ich nicht wieso. Ich habe vor allem Angst vor seinen Abwertungen, deswegen will ich dünn sein.‘

Hörst du? Sie will dünn sein, weil sie Angst vor dir hat. Also warum sollte sie dünn sein?

‚Weil es das einzig akzeptable ist.‘

Definiere akzeptabel.

‚Akzeptabel heißt, dass man sich für alles andere schämen muss.‘

Aha. Schämen. Warum?

‚Weil man sein eigenes Versagen sichtbar mit sich herum trägt.‘

Hm. Auf das mit dem Versagen gehe ich später ein. Also angenommen dieses ‚Versagen‘ wäre nicht sichtbar, dann müsste sie sich nicht schämen?

‚Nein. Weil es keiner merkt.‘

Schämen heißt für dich, sein ‚Versagen‘ nicht öffentlich zu zeigen.

‚Genau‘

Und warum nicht? Was würde passieren, wenn sie es doch täte?

‚Dann würden sie alle auslachen und verachten.‘

Kennst du jeden? Weißt du denn genau, dass es alle betrifft?

‚Nein. Aber manche bestimmt.‘

Ja, gut möglich. Dann lachen sie manche aus und verachten sie. Und dann?

‚Wie und dann. Und dann nichts. Solange sie nicht den Anspruch erhebt, ihnen etwas beibringen zu wollen.‘

Aha. Weil?

‚Weil sie als Versagerin unglaubwürdig ist.‘

Ok. Und nun zum Versagen. Wieso ist sie eine Versagerin, wenn sie dick ist? (An diesem Punkt war ich schon viele Male. Die Antwort stellt sich auch nicht sofort ein. Ich fühle lange in mich hinein)

‚Weil die anderen das so sehen.‘

Welche anderen?

‚Die, die sich damit nicht auskennen, die nur die Fassade sehen.‘

Das kann gut sein. Und?

‚Und nichts. Ich will sie schützen. Vor Anfeindungen und Lächerlichkeit. Auf Nummer sicher gehen. Keinem einen Anlass zur Kritik geben.‘

Weil?

‚Weil Kritik und Demütigung früher für sie überwältigend war, nicht auszuhalten.‘

Das stimmt, da war sie ein Kind. Für Kinder ist es überwältigend, besonders wenn es von den eigenen Eltern kommt. Also hast du ihr geholfen, das zu vermeiden, indem sie Situationen vermeidet, die möglicherweise dazu führen könnten. Aber ist das heute noch nötig? Wird sie von Kritik überwältigt?

‚Nein.‘

Nein. Heute führt das nur noch zur Lebensvermeidung. Sie versteckt sich, wagt nichts und traut sich nicht ihr Können zu zeigen.

Das ist der Moment in dem die Spannung runtergeht. Der Kreis schließt sich, ich verstehe. Ich schäme mich für das Dicksein, weil es einen sehr wahrscheinlichen Anlass für Kritik in unserer Gesellschaft liefert. Das ist so und das braucht nicht geleugnet zu werden. Und Teile in mir wollen solche Anlässe um jeden Preis vermeiden, die Scham funktioniert dabei als Mittel um mich in Schach zu halten, um mich versteckt zu halten.

Aber ich brauch Kritik nicht mehr zu fürchten, wie mein kindlicher Anteil es tut. Sie wird mich heute als Erwachsene nicht überwältigen. Doch dieses Kind in mir, dass sich noch so fürchtet braucht meinen Beistand.

Kleine, was brauchst du, um dich so wie du bist zeigen zu können?

Ich will gesehen werden, das ist alles.